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(meine) Ostdeutsche Sichtweise?

Die Weichenstellung von 1993 im Lichte der Wahlen 2024 und 2025

Der Zusammenschluss von Bündnis 90, der Bürgerrechtsbewegung der ehemaligen DDR, und der westdeutschen Grünen im Mai 1993 ist eine Weichenstellung, deren Auswirkungen bis in das politische Jahr 2025 hinein spürbar sind. Nach den intensiven Wahljahren 2024 und 2025 – mit Kommunal-, Europa- und Landtagswahlen sowie einer vorgezogenen Bundestagswahl – zeigt sich, dass die historische Frage nach einer eigenständigen ostdeutschen grünen Identität heute relevanter denn je ist.

Die Wahlergebnisse der jüngsten Zeit offenbaren, dass die Partei Bündnis 90/Die Grünen in den ostdeutschen Bundesländern weiterhin mit einer tief verwurzelten Vertrauenskrise kämpft. Während die Partei in westdeutschen Ballungszentren stabil bleibt, konnten die Bündnisgrünen im Osten kaum Wähler:innen überzeugen. Die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September 2024 sowie die darauffolgende Bundestagswahl im Februar 2025 führten zu empfindlichen Verlusten. Die politische Landschaft im Osten ist nun mehr denn je von nationalkonservativen und populistischen Kräften dominiert, was die historische Aufgabe, die spezifischen Anliegen der Bürgerbewegung zu vertreten, in den Vordergrund rückt.

Identitätskrise in einer gespaltenen Nation

Die Ursache dieser Entwicklung ist in der historischen Fusion von 1993 zu suchen. Die ursprünglich in der Bürgerbewegung verankerte Agenda – basierend auf direkter Demokratie, Bürgerrechten und der Aufarbeitung der Diktatur – wurde durch die Dominanz der westdeutschen Ökologie- und Klimapolitik überlagert. Seit meinem Beitritt bei den Bündnisgrünen im Mai 2022 in Bad Saarow sehe ich tagtäglich, wie diese Kluft die lokale Arbeit erschwert. In einer Region, die stark von strukturellen Umbrüchen betroffen ist, müssen die Themen bezahlbares Wohnen, soziale Absicherung im Wandel und die Stärkung lokaler Infrastruktur dringend mit den Zielen des Klimaschutzes verknüpft werden.

Die politische Herausforderung nach den Wahlen 2024 und 2025 besteht darin, die Partei in Ostdeutschland neu zu erfinden. Es reicht nicht, die westdeutsche Politik nach Osten zu exportieren. Es braucht eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Werte von Bündnis 90 und eine konsequente Übersetzung dieser Werte in eine progressive Politik, die das Leben der Menschen direkt verbessert. Die Partei muss eine überzeugende Antwort darauf finden, wie die ökologische Transformation sozial gerecht gestaltet werden kann, insbesondere in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit und politischer Polarisierung.

Die Rolle von Parteilosen in der Fraktionsarbeit

Im Rahmen der jüngsten Entwicklungen in der lokalen Politik zeigt sich eine zusätzliche Ebene dieser Identitätsfrage. In einer kürzlichen Diskussion mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in Fürstenwalde wurde mir bewusst, dass nicht alle Mandatsträger:innen der Fraktion Parteimitglieder sind, sondern ihre Rolle als Parteilose ausüben.

Dieses Vorgehen ist ein bezeichnendes Beispiel für die ambivalente Beziehung der Partei zur Zivilgesellschaft. Einerseits ermöglicht es der Partei, engagierte Bürger:innen ohne feste Bindung an die Organisation in ihre Arbeit zu integrieren, was die Fraktion breiter aufstellt und das bürgerschaftliche Engagement stärkt. Andererseits wirft es die Frage auf, wie die politische Kohärenz und programmatische Ausrichtung einer Fraktion gewährleistet wird, deren Mitglieder nicht alle den gleichen internen Entscheidungsprozessen und programmatischen Verpflichtungen unterliegen. Es berührt die Kernfrage, wie sich die Partei zwischen einer organisierten politischen Kraft und einer offeneren Bürgerplattform positioniert.

Strategische Neuorientierung: Hin zu einer progressiven Transformationspolitik

Eine zukunftsorientierte Strategie muss die historischen Lektionen der Fusion anerkennen und die politische Agenda neu justieren. Der bloße Verweis auf die ursprünglichen Werte von Bündnis 90 ist nicht ausreichend; es bedarf einer progressiven Neuausrichtung, die diese Werte in die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen übersetzt.

Die Kernaufgabe besteht darin, die ökologische Transformation mit den Themen sozialer Gerechtigkeit und bürgerlicher Teilhabe zu verknüpfen. Die Klimaneutralität darf nicht als separates Problem behandelt werden, sondern als integraler Bestandteil einer umfassenden gesellschaftlichen Erneuerung. Das bedeutet:

  • Soziale Absicherung im Strukturwandel: Maßnahmen wie die Gewährleistung bezahlbaren Wohnraums durch die Förderung nachhaltiger Bauprojekte oder die Umschulung und Weiterbildung von Arbeitskräften müssen als zentrale Säulen der Umweltpolitik etabliert werden.
  • Wiederbelebung der Bürgerrechte: Die Verteidigung von Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz und Rechtsstaatlichkeit muss als essenzieller Beitrag zur Stärkung der Demokratie verstanden werden.
  • Beteiligung der Zivilgesellschaft: Die Basisdemokratie, die Bündnis 90 kennzeichnete, sollte durch die systematische Einbeziehung der Zivilgesellschaft in politische Entscheidungsprozesse gestärkt werden.

Demografie als Motor des Wandels: Die Rolle der Senior:innen

Die alternde Bevölkerung und der demografische Wandel in Ostdeutschland stellen keine Bedrohung, sondern eine Chance dar. Die ältere Generation, die einen reichen Erfahrungsschatz aus dem Widerstand und der Transformationszeit mitbringt, ist ein ungenutztes Potenzial. Ihr Wissen über nachhaltige Lebensweisen, Reparatur und Wiederverwendung ist von unschätzbarem Wert für eine Gesellschaft, die sich den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft verschreibt.

Die zielgerichtete Einbindung von Senior:innen in lokale Klimaprojekte kann zu einer Stärkung der gesellschaftlichen Resilienz beitragen. Die Vernetzung dieser Wählergruppe in Landesverbänden, wie in Sachsen und Brandenburg, muss in allen ostdeutschen Bundesländern intensiviert werden. Diese Initiativen dienen nicht nur der Aktivierung, sondern auch der Anerkennung und Wertschätzung der politischen Erfahrung dieser Generation. Die Politik muss die Rolle der Senior:innen als Gestalter:innen des Wandels anerkennen und nicht als passive Empfänger:innen von Sozialleistungen.

Der demografische Wandel erfordert ein Umdenken in den politischen Strukturen. Die Partei muss offen für neue Ideen und unkonventionelle Lösungsansätze sein, anstatt sich auf bewährte, aber veraltete Modelle zu verlassen. Dieses explizite Bekenntnis zum Nichtwissen und zur Experimentierfreude ist entscheidend für die Gestaltung einer zukunftsfähigen und gerechten Gesellschaft.

Zum Abschluss möchte ich Sie um Ihre Meinung bitten: Wie nehmen Sie diese Praxis wahr, dass auch Parteilose in der Fraktion der Bündnisgrünen mitarbeiten? Sehen Sie darin eine Chance für mehr Bürgernähe oder eher ein Risiko für die politische Identität und Verlässlichkeit der Partei?

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